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Am See und im Schnee
Wintergeschichte
von Heinrich Seidel
Braunsberg und Wildingshagen sind zwei Rittergüter,
die in einer der fruchtbaren Gegenden von Norddeutschland nicht weit
voneinander entfernt liegen. Vor Jahren lebten daselbst zwei
Gutsbesitzer von einerlei Gesinnung und Neigung; sie hielten gute
Freundschaft miteinander, unterstützten sich gegenseitig mit Rat und
Tat und waren eifrig bemüht, einer dem andern den guten Rotwein
auszutrinken, der reichlich in ihren Kellern lagerte. Dies
freundschaftliche Verhältnis schien sich bei den ältesten Söhnen,
die zur Übernahme der Güter bestimmt waren, fortsetzen zu wollen.
Sie besuchten in einer benachbarten Stadt das Gymnasium, durchsaßen
fast nebeneinander in langsamen Tempo die Klassen und kamen beide
glücklich genau an derselben Stelle durch das Abiturientenexamen,
nämlich an jener, wo oben durch und unten durch hart aneinander
grenzen. Während dieser ganzen Zeit waren sie unzertrennlich
gewesen, hatten bei einer kleinen ausgebleichten
Kanzleisekretärswitwe zwei Zimmerchen bewohnt, hatten alle Vorräte,
mit denen ihre vorsorglichen Mütter das städtische Hungersleben zu
mildern trachteten, redlich miteinander geteilt und alle ihre dummen
Streiche gemeinsam ausgeführt.
Sie bezogen demnächst auch dieselbe Universität, um sich unter dem
Vorwande des Studiums der Rechtswissenschaft einige Jahre lang von
den schrecklichen Strapazen der Abgangsprüfung zu erholen, und hier
erlitt der scheinbar so dauerhafte Freundschaftsbund den ersten
Riss, indem Peter Maifeld, der einstige Besitzer von Braunsberg,
eines guten Abends in die Netze einiger Corpsstudenten ging und am
andern Morgen mit schwerem Haupte als ein Fuchs der Borussia
erwachte, während Fritz Dieterling, der zukünftige Herr auf Wildingshagen,
fast gleichzeitig in die Burschenschaft Germania eintrat. Da sie nun
auf diese Art plötzlich gewissermaßen zwei verschiedenen Nationen
angehörten, deren unabänderliche Stammesgesetze vorschreiben, sich
gegenseitig mit gebührender Nichtachtung zu betrachten, so blieb
ihnen nichts übrig, als sich zu trennen und sich fortan mit kühler
Höflichkeit aus der Ferne zu besehen. Dies hinderte jedoch nicht,
dass sie bei Ferienbesuchen in der Heimat, wo sie sich auf neutralem
Boden und sozusagen in Zivil fühlten, den alten, freundschaftlichen
Umgang fortsetzten, bei welchen Gelegenheiten sie allerdings häufig
über die erhabenen Grundsätze ihrer beiden Völkerschaften in großen
Streit gerieten, ohne dass es einem von ihnen gelingen wollte, den
anderen von der Haltlosigkeit und Verwerflichkeit seiner Anschauung
zu überzeugen.
Beide verließen nach drei Jahren die Universität, Peter Maifeld, um
bei einem Freunde seines Vaters die Landwirtschaft praktisch zu
erlernen, während Fritz Dieterling noch eine Zeitlang auf Reisen
ging. Jedoch nach einem halben Jahre schon rief ihn die Nachricht
von dem plötzlichen Tode seines Vaters nach Hause, und er war
gezwungen, augenblicklich das Gut zu übernehmen und sich mit
Beihilfe eines alten, tüchtigen Inspektors in die neue Tätigkeit
einzuarbeiten. Nach einem Jahre verheiratete er sich mit einer
benachbarten Gutsbesitzertochter von blühender Gesundheit und
achtbarem Vermögen, und nicht ganz ein weiteres Jahr später war auch
schon ein neuer, ganz kleiner und sehr anspruchsvoller Fritz
Dieterling da, so dass der, der noch vor dreißig Monaten im Kreise
fröhlicher Genossen gesungen hatte: ‚’'s gibt kein schön'res Leben
als Studentenleben!" nun bereits die Würde eines Familienvaters
bekleidete und mit vollem Rechte das Lied anstimmen konnte: "Oh,
alte Burschenherrlichkeit, wohin bist du verschwunden?!" Dies fiel
ihm aber gar nicht ein, sondern sich mit Feuereifer seiner neuen
reichen und vielseitigen Tätigkeit widmend, lag ihm nichts ferner
als jene sentimentale Erinnerung an die sogenannte frische und
fröhliche Studentenzeit, die man vorzugsweise bei jenen findet, die
sich nicht weiter entwickeln, sondern, nachdem sie eine Zeit tollen
studentischen Übermutes wie eine Krankheit, gleich den Masern,
überstanden haben, auf alle viere in das Philistertum zurücksinken,
wo von jeher ihre wirkliche Heimat war.
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