Der
kleine Tannenbaum
Es war einmal ein kleiner Tannenbaum im tiefen Tannenwalde, der
wollte so gerne ein Weihnachtsbaum sein. Aber das ist gar nicht
so leicht, als man das meistens in der Tannengesellschaft
annimmt, denn der heilige Nikolaus ist in der Beziehung sehr
streng und erlaubt nur den Tannen als Weihnachtsbaum in Dorf und
Stadt zu spazieren, die dafür ganz ordnungsmäßig in seinem Buch
aufgeschrieben sind. Das Buch ist ganz erschrecklich groß und
dick, so wie sich das für einen guten alten Heiligen geziemt,
und damit geht er im Walde herum in den klaren kalten
Winternächten und sagt es allen den Tannen, die zum
Weihnachtsfeste bestimmt sind. Und dann erschauern die Tannen,
die zur Weihnacht erwählt sind, vor Freude und neigen sich
dankend und dazu leuchtet des Heiligen Heiligenschein und das
ist sehr schön und sehr feierlich.
Und der kleine Tannenbaum im tiefen Tannenwalde, der wollte so
gerne ein Weihnachtsbaum sein.
Aber manches Jahr schon ist der heilige Nikolaus in den klaren
kalten Winternächten an dem kleinen Tannenbaum vorbeigegangen
und hat wohl ernst und geschäftig in sein erschrecklich großes
Buch geguckt, aber auch nichts und gar nichts dazu gesagt. Der
arme kleine Tannenbaum war eben nicht ordnungsmäßig vermerkt -
und da ist er sehr, sehr traurig geworden und hat ganz
schrecklich geweint, so dass es ordentlich tropfte von allen
Zweigen.
Wenn jemand so weint, dass es tropft, so hört man das natürlich,
und diesmal hörte das ein kleiner Wicht, der ein grünes
Moosröcklein trug, einen grauen Bart und eine feuerrote Nase
hatte und in einem dunklen Erdloch wohnte. Das Männchen aß
Haselnüsse, am liebsten hohle, und las Bücher, am liebsten
dicke, und war ein ganz boshaftes kleines Geschöpf. Aber den
Tannenbaum mochte es gerne leiden, weil es oft von ihm ein paar
grüne Nadeln geschenkt bekam für sein gläsernes Pfeifchen, aus
dem es immer blaue ringelnde Rauchwolken in die goldene Sonne
blies - und darum ist der Wicht auch gleich herausgekommen, als
er den Tannenbaum so jämmerlich weinen hörte und hat gefragt:
"Warum weinst du denn so erschrecklich, dass es tropft?"
Da hörte der kleine Tannenbaum etwas auf zu tropfen und erzählte
dem Männchen sein Herzeleid. Der Wicht wurde ganz ernst und
seine glühende Nase glühte so sehr, dass man befürchten konnte,
das Moosröcklein finge Feuer, aber es war ja nur die
Begeisterung und das ist nicht gefährlich. Der Wichtelmann war
also begeistert davon, dass der kleine Tannenbaum im tiefen
Tannenwalde so gerne ein Weihnachtsbaum sein wollte, und sagte
bedächtig, indem er sich aufrichtete und ein paar Mal bedeutsam
schluckte:
"Mein lieber kleiner Tannenbaum, es ist zwar unmöglich, dir zu
helfen, aber ich bin eben ich und mir ist es vielleicht doch
nicht unmöglich, dir zu helfen. Ich bin nämlich mit einigen
Wachslichtern, darunter mit einem ganz bunten, befreundet, und
die will ich bitten zu dir zu kommen. Auch kenne ich ein großes
Pfefferkuchenherz, das allerdings nur flüchtig - aber jedenfalls
will ich sehen, was sich machen lässt. Vor allem aber weine
nicht mehr so erschrecklich, dass es tropft."
Damit nahm der kleine Wicht einen Eiszapfen in die Hand als
Spazierstock und wanderte los durch den tiefen weiß verschneiten
Wald, der fernen Stadt zu.
Es dauerte sehr, sehr lange, und am Himmel schauten schon die
ersten Sterne der heiligen Nacht durchs winterliche Dämmergrau
auf die Erde hinab und der kleine Tannenbaum war schon wieder
ganz traurig geworden und dachte, dass er nun doch wieder kein
Weihnachtsbaum sein würde. Aber da kam's auch schon ganz eilig
und aufgeregt durch den Schnee gestapft, eine ganze kleine
Gesellschaft: der Wicht mit dem Eiszapfen in der Hand und hinter
ihm sieben Lichtlein - und auch eine Zündholzschachtel war
dabei, auf der sogar was draufgedruckt war und die so kurze
Beinchen hatte, dass sie nur mühsam durch den Schnee wackeln
konnte.
Wie sie nun alle vor dem kleinen Tannenbaum standen, da
räusperte sich der kleine Wicht im Moosröcklein vernehmlich,
schluckte ein paar Mal gar bedeutsam und sagte:
"Ich bin eben ich - und darum sind auch alle meine Bekannten
mitgekommen. Es sind sieben Lichtlein aus allervornehmstem
Wachs, darunter sogar ein buntes, und auch die Zündholzschachtel
ist aus einer ganz besonders guten Familie, denn sie zündet nur
an der braunen Reibfläche. Und jetzt wirst du also ein
Weihnachtsbaum werden. Was aber das große Pfefferkuchenherz
betrifft, das ich nur flüchtig kenne, so hat es auch versprochen
zu kommen, es wollte sich nur noch ein Paar warme Filzschuhe
kaufen, weil es gar so kalt ist draußen im Walde. Eine Bedingung
hat es freilich gemacht: es muss gegessen werden, denn das
müssen alle Pfefferkuchenherzen, das ist nun mal so. Ich habe
schon einen Dachs benachrichtigt, den ich sehr gut kenne und dem
ich einmal in einer Familienangelegenheit einen guten Rat
gegeben habe. Er liegt jetzt im Winterschlaf, doch versprach er,
als ich ihn weckte, das Pfefferkuchenherz zu speisen.
Hoffentlich verschläft er's nicht!"
Als das Männchen das alles gesagt hatte, räusperte es sich
wieder vernehmlich und schluckte ein paar Mal gar bedeutsam und
dann verschwand es im Erdloch. Die Lichtlein aber sprangen auf
den kleinen Tannenbaum hinauf und die Zündholzschachtel, die aus
so guter Familie war, zog sich ein Zündholz nach dem anderen aus
dem Magen, strich es an der braunen Reibfläche und steckte alle
die Lichtlein der Reihe nach an. Und wie die Lichtlein brannten
und leuchteten im tief verschneiten Walde, da ist auch noch
keuchend und atemlos vom eiligen Laufen das Pfefferkuchenherz
angekommen und hängte sich sehr freundlich und verbindlich
mitten in den grünen Tannenbaum, trotzdem es nun doch die warmen
Filzschuhe unterwegs verloren hatte und arg erkältet war. Der
kleine Tannenbaum aber, der so gerne ein Weihnachtsbaum sein
wollte, der wusste gar nicht, wie ihm geschah, dass er nun doch
ein Weihnachtsbaum war.
Am anderen Morgen aber ist der Dachs aus seiner Höhle gekrochen,
um sich das Pfefferkuchenherz zu holen. Und wie er ankam, da
hatten es die kleinen Englein schon gegessen, die ja in der
heiligen Nacht auf die Erde dürfen und die so gerne die
Pfefferkuchenherzen speisen. Da ist der Dachs sehr böse geworden
und hat sich bitter beklagt und ganz furchtbar auf den kleinen
Tannenbaum geschimpft.
Dem aber war das ganz einerlei, denn wer einmal in seinem Leben
seine heilige Weihnacht gefeiert hat, den stört auch der
frechste Frechdachs nicht mehr.
Manfred Kyber |