Der Schneemann
Es war einmal ein Schneemann, der stand mitten im tief
verschneiten Walde und war ganz aus Schnee. Er hatte keine Beine
und Augen aus Kohle und sonst nichts und das ist wenig. Aber
dafür war er kalt, furchtbar kalt. Das sagte auch der alte
griesgrämige Eiszapfen von ihm, der in der Nähe hing und noch
viel kälter war.
"Sie sind kalt!" sagte er ganz vorwurfsvoll zum Schneemann.
Der war gekränkt. "Sie sind ja auch kalt," antwortete er.
"Ja, das ist etwas ganz anderes," sagte der Eiszapfen überlegen.
Der Schneemann war so beleidigt, dass er fort gegangen wäre,
wenn er Beine gehabt hätte. Er hatte aber keine Beine und blieb
also stehen, doch nahm er sich vor, mit dem unliebenswürdigen
Eiszapfen nicht mehr zu sprechen. Der Eiszapfen hatte
unterdessen was anderes entdeckt, was seinen Tadel reizte: ein
Wiesel lief über den Weg und huschte mit eiligem Gruß an den
beiden vorbei.
"Sie sind zu lang, viel zu lang!" rief der Eiszapfen hinter ihm
her, "wenn ich so lang wäre, wie Sie, ginge ich nicht auf die
Straße!" "Sie sind doch auch lang," knurrte das Wiesel verletzt
und erstaunt. "Das ist etwas ganz anderes!" sagte der Eiszapfen
mit unverschämter Sicherheit und knackte dabei ordentlich vor
lauter Frost. Der Schneemann war empört über diese Art, mit
Leuten umzugehen, und wandte sich, soweit ihm das möglich war,
vom Eiszapfen ab. Da lachte was hoch über ihm in den Zweigen
einer alten schneeverhangnen Tanne, und wie er hinaufsah, saß
ein wunderschönes, weißes, weiches Schnee-Elfchen oben und
schüttelte die langen hängenden Haare, dass tausend kleine
Schneesternchen herab fielen und dem armen Schneemann gerade auf
den Kopf. Das Schnee-Elfchen lachte noch lauter und lustiger,
dem Schneemann aber wurde ganz seltsam zu Mut und er wusste gar
nicht, was er sagen sollte, und da sagte er schließlich: "Ich
weiß nicht, was das ist...."
"Das ist etwas ganz anderes," höhnte der Eiszapfen neben ihm.
Aber dem Schneemann war so seltsam zu Mute, dass er gar nicht
mehr auf den Eiszapfen hörte, sondern immer hoch über sich auf
den Tannenbaum sah, in dessen Krone sich das weiße
Schnee-Elfchen wiegte und die langen hängenden Haare schüttelte,
dass tausend kleine Schneesternchen herab fielen.
Der Schneemann wollte unbedingt etwas sagen über das eine, von
dem er nicht wusste, was es war, und von dem der Eiszapfen
sagte, dass es etwas ganz anderes wäre. Er dachte schrecklich
lange darüber nach, so dass ihm die Kohlenaugen ordentlich
herausstanden vor lauter Gedanken, und schließlich wusste er,
was er sagen wollte, und da sagte er:
"Schnee-Elfchen im silbernen Mondenschein,
du sollst meine Herzallerliebste sein!"
Dann sagte er nichts mehr, denn er hatte das Gefühl, dass nun
das Schnee-Elfchen etwas sagen müsse, und das war ja wohl auch
nicht unrichtig. Das Schnee-Elfchen sagte aber nichts, sondern
lachte so laut und lustig, dass die alte Tanne, die doch sonst
gewiss nicht für Bewegung war, missmutig und erstaunt die Zweige
schüttelte und sogar vernehmlich knarrte. Da wurde es dem armen,
kalten Schneemann so brennend heiß ums Herz, dass er anfing vor
lauter brennender Hitze zu schmelzen, und das war nicht schön.
Zuerst schmolz der Kopf, und das ist das Unangenehmste - später
geht's ja leichter. Das Schnee-Elfchen aber saß ruhig hoch oben
in der weißen Tannenkrone und wiegte sich und lachte und
schüttelte die langen hängenden Haare, dass tausend kleine
Schneesternchen herab fielen. Der arme Schneemann schmolz immer
weiter und wurde immer kleiner und armseliger und das kam alles
von dem brennenden Herzen. Und das ist so weitergegangen und der
Schneemann war schon fast kein Schneemann mehr, da ist der
heilige Abend gekommen und die Englein haben die goldnen und
silbernen Sterne am Himmel geputzt, damit sie schön glänzen in
der heiligen Nacht.
Und da ist etwas Wunderbares geschehen: wie das Schnee-Elfchen
den Sternenglanz der heiligen Nacht gesehen hat, da ist ihm so
seltsam zu Mute geworden und da hat's mal auf den Schneemann
heruntergesehen, der unten stand und schmolz und eigentlich
schon so ziemlich zerschmolzen war. Da ist's dem Schnee-Elfchen
so brennend heiß ums Herz geworden, dass es herunter gehuscht
ist vom hohen Tann und den Schneemann auf den Mund geküsst hat,
so viel noch davon übrig war. Und wie die beiden brennenden
Herzen zusammen waren, da sind sie alle beide so schnell
geschmolzen, dass sich sogar der Eiszapfen darüber wunderte, so
ekelhaft und unverständlich ihm die ganze Sache auch war.
So sind nur die beiden brennenden Herzen nachgeblieben, und die
hat die Schneekönigin geholt und in ihren Kristallpalast
gebracht, und da ist's wunderschön und der ist ewig und schmilzt
auch nicht. Und zu alledem läuteten die Glocken der heiligen
Nacht.
Als aber die Glocken läuteten, ist das Wiesel wieder
herausgekommen, weil es so gerne das Glockenläuten hört, und da
hat's gesehen, dass die beiden weg waren.
"Die beiden sind ja weg," sagte es, "das ist wohl der
Weihnachtszauber gewesen."
"Ach, das war ja etwas ganz anderes!" sagte der Eiszapfen
rücksichtslos und das Wiesel verzog sich empört in seine
Behausung.
Auf die Stelle aber, wo die beiden geschmolzen waren, fielen
tausend und abertausend kleine weiße, weiche Flocken, so dass
niemand mehr was von ihnen sehn und sagen konnte. - Nur der
Eiszapfen hing noch genau so da, wie er zuerst gehangen hatte,
und der wird auch niemals an einem brennenden Herzen schmelzen
und auch gewiss nicht in den Kristallpalast der Schneekönigin
kommen - denn der ist eben etwas ganz anderes!
Manfred Kyber |