Die Christblume
Einsam ist
die Blume, von der ich euch heute erzählen will. Sie kennt nicht
die frohen Tage des Frühlings noch die duftreichen Nächte des
Sommers. Keine flüsternden Gefährtinnen wachsen neben ihr auf,
kein Vogel singt sie in Träume. In Schnee und Eis muss sie
schauen, der Nordwind streicht über sie hin, und das eintönige
Krächzen der Rabenvögel ist ihre Musik.
Und doch ist sie weiß und zart wie nur eine ihrer Schwestern;
anmutig wächst sie aus dem Kranze grüner Blätter empor, und ihr
tiefer Kelch hütet die Geheimnisse der Blumen. Und sie fühlt
keinen Winterschmerz! Still und stolz steht sie in ihrer Kraft.
Sie weiß das sie begnadet ist: die einzige Blume, die im Winter
blühen darf, die einzige Blume, die das heilige Christfest
feiern darf mit den Bewohnern der Erde. Sage mir, Schwester der
Lilie, was rief dich ins winterliche Leben? Was gab dir die
Macht, der Kälte und dem Sturm zu trotzen? Warum schläfst du
nicht im Frieden der Erde?
Die Blätter rauschen mir Töne und Akkorde zu, sie raunen und
rauschen - Silben höre ich, Worte - und nun will ich ihre
Geschichte erzählen.
Es ist Totensonntag. Auf dem Wege zum Kirchhof geht eine stille
dunkle Schar Menschen. sie tragen Totenkränze, Tannenreiser und
Immortellen, immergrüne Eichen und rote Vogelbeeren. Sie gehen
schweigend, als dächten sie vergangener Tage oder träumten in
banger Hoffnung von künftiger Helle. Der letzte im Zug ist ein
kleiner Knabe, der auf der Schulter ein grünes Holzkreuz trägt,
eine schwere Last für einen jungen Körper! Es ist ein armseliges
Kreuz, roh gefügt, mit abgeschrägten Ecken. Des Knaben Blicke
aber ruhen liebevoll darauf; seine jungen, ungeübten Hände haben
wohl selbst das Holz geschnitzt.
Aus der Kapelle des Totenhauses läutet die kleine Glocke, und
andächtig zieht die Schar der trauernden durch das Portal. Ein
leiser Wind geht mit ihnen; es sind die Todesengel, die dem Zuge
unsichtbar folgen. Vom breiten Mittelwege aus verteilen sich
lautlos die Gäste der Toten. Bald hat auch der blasse Knabe das
Grab seiner Mutter gefunden. Es ist ein frischer Hügel; ohne
Schmuck und ohne Pflege liegt er im kühlen Frühnebel. Der Kleine
kniet nieder, pflanzt sein Kreuzlein zu Häupten der Toten und
betet leise. Der Engel, der ihm folgte, beugt sich nieder, um
die Inschrift zu lesen. "Liebe Mutter", steht in großen,
kindlichen Buchstaben auf dem Querholz, sonst nichts. Da küsst
der Engel das Kind aufs Haupt.
Die andern Gräber schmückten sich nach und nach mit den Blumen
und Kränzen der Leidtragenden; des Knaben Augen aber sahen
angstvoll über das leere Grab, und ein Zucken des Schmerzes ging
über das kleine Gesicht. "Lieber Gott," betete er leise, "lass
meiner Mutter auch eine schöne Blume wachsen, ich muss fort ins
Weisenhaus und kann ihr keine mehr bringen. Du aber kannst es,
lieber Gott, du bist gut und allmächtig, und ich bitte dich so
sehr."
Da küsste der Engel das Kind zum zweiten Male, und ein stiller
Schein der Gewissheit kam in die braunen Augen des Knaben. Er
rückte das Kreuzlein noch einmal zurecht, küsste das Grab seiner
Mutter und folgte den andern Leuten, die den Heimweg antraten.
Der Engel aber flog heim zu Gott und brachte ihm den Wunsch des
Knaben. "Es ist Winter," sprach der Herr, "alle Pflanzen
schlafen; soll ich diese Kindes wegen meine ewigen Gesetze
ändern?" "Deine Allmacht, o Herr, ist größer als dein Gesetz,
deine Güte reicher als dein Wille!" Da lächelte der Herr, dass
die Wolken erstrahlten und ein Klingen durch die Sterne ging.
"Komm", sagte er zum Engel, und sie traten schweigend in den
Garten des Paradieses.
Dort blühen die Blumen, die achtlose Hände auf Erden
fortgeworfen und achtlose Füße zertreten haben. Schöner blühen
sie hier im himmlischen Licht als in der irdischen Sonne; und
als der Schöpfer zu ihnen trat, reckten sich Ranken und Gräser
ihm entgegen, und die Kelche strömten über von Duft und Glanz.
Gott aber trat zu einer weißen Lilie, nahm die zitternde aus dem
Schoße des Himmels, küsste sie und gab sie dem Engel. "Dem
Erdenkinde zur Freude und meinem Sohne zum Angedenken blühe
diese Botin des Himmels künftig auf Erden in Eis und Schnee. Die
Winde sollen ihren Samen durch die Länder des Nordens tragen;
die Wärme meines Willens ströme durch ihre Wurzeln und bleibe
ihr für die Dauer der irdischen Zeit!"
"Du aber lege das Zeichen des Todes ab und schütze den Knaben
mit dem warmen Herzen. Breite deine Flügel um ihn aus, dass der
Same, der in seiner Seele keimt, auch in Frost und Dürre nicht
ersterbe, und die Blume der Menschenliebe daraus erblühe; sie
ist holder als alle Blumen des Paradieses."
Dankbar neigte sich der Engel, küsste des Herrn Gewand und ging
seinen Befehlen zu folgen.
So ist die Christblume auf die Erde gekommen, und fromme
Menschen fühlen ihren heiligen Ursprung.
Paula Dehmel
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