Die Legende von dem Zaunkönig und der
Zaunkönigin
"Großmutter, wirst du uns heute erzählen, wie Zaunkönig
Weihnachten feiert?"
Die Kinder rückten näher heran, und ihre fröhlichen Augen
glänzten erwartungsvoll. Aber Großmutter nickte nicht sofort
Gewährung, sondern ließ zuerst ihren Strickstrumpf in den
Schoß sinken und wehrte mit beiden Händen die Ungestümen von
sich ab.
"An den Tisch, ihr Kinder. Aber fein ruhig und ordentlich!
Paulchen, du willst wohl die Lampe umwerfen? - Und wie steht
es mit den Schulsachen, Karl und Emma?"
Karl lachte. Ja, was dachte Großmutter denn nur? Hätten die
Kinder wohl gewagt, den Oberstock zu betreten, welchen sie
im elterlichen Hause bewohnte, wenn nicht alles klipp und
klar gewesen wäre? Die Kinder liebten die Großmutter nicht
nur, sie waren auch ein klein wenig bange vor ihr, wenn das
Gewissen nicht rein war. Karl wurde der wildeste Junge in
der ganzen Stadt genannt; Emma konnte schon recht
schnippisch und ungehorsam sein, und der kleine Paul heulte
zuweilen, dass die Fensterscheiben dröhnten. Aber bei der
Großmutter waren alle Musterkinder. Nein, die hätten sie
nicht durch ein unartiges Wörtchen betrüben können,
wahrhaftig nicht!
"Also die Schularbeit!" mahnte Großmutter.
"Mutter hat alles nachgesehen", berichtete Emma.
"Und: Brav! hat sie gesagt", fügte Karl hinzu.
Großmutter war zufrieden. Sie erhob sich, holte aus einem
Eckschrank drei Äpfel und legte sie in die Ofenröhre.
Paulchen, das kleinste kugelrunde Paulchen, verfolgte ihr
Tun mit liebevollen Blicken, und dann seufzte es sorgenvoll:
"Wer wohl den dicksten kriegt?" denn es war ein leckerhaftes
Bürschlein, und sein erster und letzter Wunsch lautet:
"Etwas, das gut schmeckt, und viel, sehr viel davon!
"Und nun die Geschichte von Zaunkönigs Weihnachten! Du hast
sie uns versprochen, Großmutter", erinnerte Karl.
"Wer von euch hat denn schon einen Zaunkönig gesehen?"
fragte Großmutter.
"Ich, ich", riefen die Kinder durcheinander. "Ein
allerliebstes Vögelchen ist es - im braungrauen
Federkleidchen, - beinahe wie ein Spatz, nur kleiner und
flinker und viel zierlicher."
"Ja es ist ein allerliebstes Tierchen, und ihr habt es euch
gut angesehen", lobte die Großmutter. "So klein ist es, dass
unser Paul es mit seinem Fäustchen zudecken könnte, aber
immer zufrieden, immer guten Mutes. Wenn der eiskalte
Nordwind über die winterlichen Fluren streicht, dann sitzt
es auf einem dürren Zweiglein so ruhig und gemütlich, wie
wir hinter dem warmen Ofen. Vor lauter Freude wippt es mit
dem aufrecht stehenden Schwänzlein, macht nach allen Seiten
sehr höfliche Verbeugungen und zwitschert gar hell in die
Welt hinein: Grüß Gott, meine Herren! Grüß Gott, meine
Damen! Schönes Wetter heute, schönes Wetter! Freilich etwas
kühl! Aber doch sehr angenehm, sehr angenehm!" Und die
andern Vöglein, die im Frühling und Sommer überall ihre
Freikonzerte geben, hören erstaunt zu, und dann spitzen sie
ihre Schnäbelein und möchten ebenfalls mit heller Stimme
einfallen.
Aber o weh, es geht nicht, die sonst so liebreiche Kehle ist
wie eingerostet. Sie sind ja nur Sommermusikanten; doch der
Zaunkönig, der winzige, unscheinbare Zaunkönig, hat etwas
vorab. Der singt im Winter schier noch schöner als im
Sommer."
"Warum, warum, Großmutter?" riefen die Kinder
erwartungsvoll.
Großmutter lächelte geheimnisvoll. "Das hängt mit Zaunkönigs
Weihnachten zusammen, und gerade davon wollte ich euch
erzählen. Es ist eine ganz sonderbare Geschichte, aus der
wir Menschenkinder auch etwas lernen können."
Großmutter setzte sich im Sessel zurecht, und die Kinder
rückten ganz dicht an sie heran, um vor allem kein Wörtchen
zu verlieren. O wie herrlich war es doch in Großmutters
Stübchen! Im Ofen knisterte das Feuer, und draußen strich
der eiskalte Nordwind um das Haus. Vom Ofen wehte der Duft
der bratenden Äpfel herüber, und der erfinderische Karl
hatte zudem Tannenzweiglein ins Feuer gelegt. Er behauptet,
das gäbe "Weihnachtsgeruch", und der darf doch nicht fehlen,
wenn kurz vor diesem hohen Feste Großmutter eine
Weihnachtsgeschichte erzählt.
Und Großmutter begann:
"Nicht immer war der Zaunkönig so geachtet und ein so
lustiges Vöglein wie heutzutage; es gab eine Zeit, da
schauten ihn die vornehmeren Vögel nur über die Schulter an
und wollten ihn in ihrer Gesellschaft durchaus nicht
zulassen. "Lieber Himmel", sagte Frau Amsel, "ich bin ja
auch nicht gerade für Farbenpracht, sondern trage jahraus,
jahrein mein einfaches, schwarzes Kleid, aber ich habe doch
wenigstens Stimme. Etwas muss der Vogel haben, das ihn
schmückt."
"Ganz meine Meinung, Frau Gevatterin", schmetterte der
Stieglitz. "Mit meiner Stimme kann ich nun gerade nicht
prahlen, aber dafür trage ich den schönsten Rock auf zehn
Meilen in der Runde. - Und der Zaunkönig hat nichts, rein
gar nichts, - nicht Stimme, kein schönes Kleid, an dem hat
unser lieber Herrgott im Himmel schwerlich Freude."
Das war hart geurteilt, und Zaunkönig und Zaunkönigin
empfanden es bitter. Denn sie waren recht fromme Vögelchen,
die morgens und abends ihr Gotteslob piepten, so gut es eben
gehen mochte. So schön wie heute klang ihr Lied damals
freilich noch nicht.
Nun begab es sich in einer schönen, klaren Winternacht, dass
die Zaunkönigin, die mit ihrem Zaunkönig einen armseligen
Stall bewohnte, von einem seltsamen Geräusch aufgeweckt
wurde. Als sie nun zwinkernd die Augen öffnete, erschrak sie
heftig vor dem herrlichen, rosaroten Glanz, der den Stall
erfüllte. Und mitten in dem Glanze stand ein wunderbares
Wesen in lang herabwallendem weißen Kleide; auf seiner hohen
Stirne trug es eine Krone, die beinahe noch prächtiger war
als diejenige des Königs Herodes, welcher damals in
Zaunkönigs Vaterland auf dem Throne saß. Die Zaunkönigin
zitterte vor Freude und Schrecken; denn das wunderbare Wesen
musste ein Engel sein, ein wahrhaftiger Engel, der gerade
vom Himmel herabgekommen war. Er schritt nicht über die Erde
wie wir Menschenkinder, sondern schwebte durch die Luft mit
lindem Flügelschlag. Und fliegen können doch sonst nur die
Vögelein.
Lieber Gott, was hat ein Engel in solch einem armseligen
Stalle zu suchen? Die Zaunkönigin wusste sich nicht mehr zu
helfen. Sie stieß den Gemahl mit den Flüglein an und
flüsterte: "Wache auf, Zaun, wache auf! Jetzt ist nicht mehr
Zeit zum Schlafen, wunderbare Dinge tragen sich zu." König
Zaun aber brummte gewaltig über die Störung; denn es war
etwas faul. Jedoch die Königin ließ nicht nach. Und als er
nun die Augen öffnete, lieber Himmel, da piepte er beinahe
vor Schrecken und Überraschung. So etwas war auch noch
niemals da gewesen, solange es Zaunkönige gibt.
Der Engel hatte sich in den Staub nieder geworfen, und mit
ausgebreiteten Armen betete er: "O Liebe, o Liebe! Hier also
ist der gnadenvolle Ort, an dem der König des Himmels und
der Erde geboren werden soll. Nur noch wenige Tage und das
größte Wunder wird hier geschehen: Gott selbst betritt die
Welt als kleines, armseliges Menschenkindlein. Und in diesem
Stalle will er geboren werden. Schon sind sie auf dem Wege
hierher, der reine, heilige Nährvater und die süße Mutter,
die wunderbare Jungfrau von Nazareth. Und hier ist der Ort,
den mein Herr und König durch seine Gegenwart heiligen will.
O du großer Gott, o du süßes Christkindlein, o du armseliger
Stall, in dem es geboren wird!"
So betete der Engel. Und nicht lange währte es, da kamen
noch viele andere Himmelsbewohner hereingeschwebt, warfen
sich in den Staub und küssten inbrünstig den heiligen Boden,
der zuerst das Gotteskindlein tragen durfte. Und dann sangen
sie mit lieblicher Stimme: "O du großer Gott, o du süßes
Christkindlein, o du armseliger Stall, in dem es geboren
wird!" Das klang noch hundertmal schöner, als wenn
Nachtigall und Amsel im Walde ein Freikonzert geben.
Die beiden Zaunkönige saßen noch immer da mit vor Erstaunen
offenem Schnäbelein, als die Engel schon längst den Stall
wieder verlassen hatten. Endlich ermannten sie sich.
"Zaun", sagte die Königin, "Zaun, welch wunderbare Sachen
mussten wir vernehmen! Mir schwindelt noch der Kopf. Der
Gott des Himmels will ein Menschenkindlein werden und zwar
in diesem Stall, - in unserem Stall, Zaun. O Gott, halb tot
möchte ich mich schämen, denn wie sieht der Stall aus!
Spinngewebe in allen Ecken und darin hässliche langbeinige
Spinnen! Staub und Wust, wohin man sieht! Auf dem Boden
Maden und Tausendfüßler und rauborstige Käfer, und dort in
der Krippe - sieh nur, Zaun - eine schreckliche Raupe, so
lange wie mein Bein und viel, viel dicker. O Zaun, wenn die
dem süßen Kinde übers Händlein kröche, und es entsetzte sich
vor dem hässlichen Tier und finge wohl gar zu weinen an! Ich
könnte mich niemals wieder vor den Menschen sehen lassen,
wenn so etwas in unserem Stalle geschehen wäre."
"Aber wie sollen wir es hindern?" meinte König Zaun, der
jetzt auch seine Sprache wieder gefunden hatte.
"Frage nicht so einfältig", verwies die Königin. "Freilich,
ein schönes Stück Arbeit wird es kosten, aber desto
fleißiger müssen wir und regen, denn es ist unser Stall, in
dem das Gotteskindlein zur Welt kommt."
So sagte die Königin und trippelte dabei von einem Beinchen
auf das andere. König Zaun freilich war mit dem Plan noch
nicht so recht einverstanden. "Wir beiden Zwerge sollen den
ganzen Stall fegen?" brummte er. "Das ist doch eigentlich
Sache der Menschen, denn zu ihnen kommt das Gotteskindlein."
"Auch zu uns kommt es", eiferte die Königin, denn es hat uns
alle erschaffen und sorgt noch jeden Tag für uns. O Zaun,
dass du so wenig für das Himmelskindlein tun willst! Die
Menschen wissen vielleicht nicht einmal, dass es kommt. Wir
aber wissen es, und Schande über uns, wenn wir seine Wohnung
nicht bereiten."
Nun konnte Zaun nicht mehr widersprechen, und noch in
derselben Nacht begannen die beiden Vöglein, den Stall zu
reinigen. Hui, war das ein Leben und eine Bewegung! Der
König flatterte umher und schlug mit seinen Flügeln den
Staub von den Wänden, fegte die Spinngewebe fort und jagte
hinter den langbeinigen Spinnen her. Hui, wie die aber Beine
machen konnten! Und in die tiefsten Winkel und Ritzen
verkrochen sie sich, ebenso die abscheulichen Tausendfüssler
und die rauborstigen Käfer. Aber es half ihnen nichts. Der
König spürte alles auf, was zu dem schmutzigen Gelichter
gehörte, und dann hieß es "Hinaus damit!" Es durfte keine
Gnade geübt werden, wenn der Stall zum Empfange des
Gotteskindes recht sauber und freundlich aussehen sollte.
Indessen reinigte die Königin die Krippe und trug duftiges
Heu und frische Blättchen hinein, wobei sie ihrem Gemahl
erklärte: "Weil wir keine Wiege haben, wird die heilige
Mutter das Kindlein wohl in diese Krippe betten müssen."
"Das Gotteskindlein in einer Krippe?" verwunderte sich Zaun.
"Ich sage es dir, und wir wollen sehen, wer Recht behält."
So unterhielten sich die Vögelchen, wobei sie das Arbeiten
nicht vergaßen, und nach einigen Tagen war der Stall so
sauber und sah so freundlich aus, - nun, wie eben ein armer
Stall aussehen kann. Denn zum Palaste konnten ihn die
fleißigen Vögel nicht machen.
Und wieder kam eine wunderschöne, klare Winternacht. Die
Sterne glänzten so feierlich am dunkelblauen Himmel, und
durch die Lüfte ging ein Singen und Klingen, als ob die Erde
lebendig geworden sei und sich freue auf die Ankunft des
Erlösers. Und wieder wurden die Zaunkönige durch ein
sonderbares Geräusch geweckt. Und als sie die Augen
aufschlugen, - o Himmel! - da lag zu ihren Füßen ein süßes
Kindlein, und vor ihm knieten eine stille, wunderbare Frau
und ein ernster Mann, dem das Glück aus den Augen leuchtete.
Und wirklich - die Zaunkönigin hatte recht behalten, - das
Kindlein lag auf dem duftigen Heu der Krippe. Und durch alle
Ritzen und Fugen schauten Engel herein und sangen gar
wundersüße Lieder, dass es den Zaunkönig froh und frei ums
Herz wurde. Sie waren ganz dicht zur Krippe geflogen, und
die heilige Jungfrau verscheuchte sie nicht. Und nun öffnete
das Christkindlein die Augen und sah die Vögel an mit
dankbaren Blicken. Da fühlten diese, wie sich in ihren
Kehlen etwas löste, und sie öffneten die Schnäbelein und
fielen mit schmetternder Stimme ein in den Gesang der
himmlischen Heerscharen.
Das war Zaunkönigs Weihnachten. Und von Stund' an konnten
sie singen und jubilieren mitten in der ärgsten Winterzeit,
wenn alle andern Vögel stumm sind, weil sie die Wohnung des
Gotteskind bereitet hatten."
Großmutter schwieg. Noch eine ganze Weile saßen die Kinder
mäuschenstill da, dann aber kamen gleich ein Dutzend Fragen
auf einmal. Großmutter wusste auf jede eine Antwort, und als
sie Karl mit dem Finger auf die Jacke tupfte, da, wo sein
Herz saß, und sagte: "Da ist auch ein Kripplein, ihr haltet
es doch alle drei wie die Zaunkönige: Heraus mit allem
Hässlichen!" nickten die drei Kinder ernsthaft, sie merkten,
was Großmutter sagen wollte.
Hedwig Dransfeld |