Weihnachtsmorgen 1772
Christtag früh. Es ist noch
Nacht, lieber Kestner, ich bin aufgestanden, um bei Lichte
morgens wieder zu schreiben, das mir
angenehme Erinnerungen voriger Zeiten zurückruft; ich habe mir Kaffee machen
lassen, den Festtag zu ehren, und will euch schreiben, bis es
Tag ist.
Der Türmer hat sein Lied schon
geblasen, ich wachte darüber auf. Gelobet seiest du,
Jesus Christ! Ich hab diese Zeit
des Jahrs gar lieb, die Lieder, die man singt, und die Kälte, die eingefallen ist, macht mich
vollends vergnügt. ich habe gestern einen herrlichen Tag gehabt, ich fürchtete für den heutigen,
aber der ist auch gut begonnen, und da ist mir's fürs Enden
nicht angst.
Der Türmer hat sich wieder zu mir
gekehrt; der Nordwind bringt mir seine Melodie, als blies er vor meinem Fenster. Gestern,
lieber Kestner, war ich mit einigen guten Jungens auf dem Lande; unsre Lustbarkeit war sehr laut
und Geschrei und Gelächter von Anfang zu ende.
Das taugt sonst nichts für de
kommende Stunde. Doch was können die heiligen Götter nicht
wenden, wenn's ihnen beliebt; sie gaben
mir einen frohen Abend, ich hatte keinen Wein getrunken, mein Aug war ganz unbefangen über
die Natur. Ein schöner Abend, als wir zurückgingen; es ward Nacht. Nun muss ich Dir
sagen, das ist immer eine Sympathie für meine Seele, wenn die Sonne lang hinunter ist
und die Nacht von Morgen heraus nach Nord und Süd um sich gegriffen hat, und nur
noch ein dämmernder Kreis von Abend herausleuchtet.
Seht, Kestner, wo das Land flach
ist, ist's das herrlichste Schauspiel, ich habe jünger
und wärmer stundenlang so ihr
zugesehn hinabdämmern auf meinen Wanderungen.
Auf der Brücke hielt ich still.
Die düstre Stadt zu beiden Seiten, der stilleuchtende Horizont, der Widerschein im Fluss machte
einen köstlichen Eindruck in meine Seele,
den ich mit beiden Armen
umfasste. Ich lief zu den Gerocks, ließ mir Bleistift geben und
Papier und zeichnete zu meiner
großen Freude das ganze Bild so dämmernd warm,
als es in meiner Seele stand. Sie
hatten alle Freude mit mir darüber, empfanden alles,
was ich gemacht hatte, und da war
ich's erst gewiss, ich bot ihnen an, drum zu würfeln, sie schlugen's aus und wollen,
ich soll's Merken schicken. Nun hängt's hier an meiner Wand und freut mich heute wie gestern. Wir
hatten einen schönen Abend zusammen, wie Leute, denen das Glück ein großes
Geschenk gemacht hat, und ich schlief ein, den Heiligen im Himmel dankend, dass sie uns
Kinderfreude zum Christ bescheren wollen.
Als ich über den Markt ging und
die vielen Lichter und Spielsachen sah,
dacht ich an euch und meine
Bubens, wie ihr ihnen kommen würdet, diesen Augenblick ein himmlischer Bote mit dem blauen
Evangelio, und wie aufgerollt sie das Buch erbauen werde.
Hätt' ich bei euch sein können,
ich hätte wollen so ein Fest Wachsstöcke illuminieren,
dass es in den kleinen Köpfen ein
Widerschein der Herrlichkeit des Himmels geglänzt hätte.
Die Torschließer kommen vom
Bürgermeister und rasseln mit den Schlüsseln. Das erste Grau des Tags kommt mir über des
Nachbarn Haus, und die Glocken läuten eine christliche Gemeinde zusammen. Wohl, ich bin
erbaut hier oben auf meiner Stube, die ich lang nicht so lieb hatte als jetzt.
Johann
Wolfgang von Goethe |