Das Hühnchen und das Hähnchen
Das Hühnchen hatte warten gelernt, aber das
Hähnchen nicht. Einst kamen sie in einen Garten voll halbreifer
Johannisbeeren. Da sagte das Hühnchen: "Lass uns warten, bis sie
reif sind; dann wollen wir wieder hierher gehen und sie essen."
Das Hähnchen aber folgte nicht, sondern aß so lange, bis es
Leibweh bekam. Da lief es mit großen Schmerzen nach Hause, und
das Hühnchen musste ihm Kamillentee kochen und ein Pflästerchen
auflegen, sonst wäre das Hähnchen gestorben.
Wieder einmal waren die beiden im Felde gewesen,
und es war ihnen so heiß geworden, dass der Schweiß auf ihnen
stand. Da kamen sie an ein frisches, klares Wässerchen und
sahen, dass es gut zum Trinken war. Das Hähnchen wollte sich
sogleich darüber hermachen, aber das Hühnchen sagte: "Nein,
liebes Hähnchen, noch nicht! Warte doch noch ein wenig, bis du
abgekühlt bist! Ich trinke ja auch nicht eher." Allein das
Hähnchen war eigensinnig und trank, soviel ihm nur schmeckte.
Doch ehe sie nach Hause kamen, wurde es plötzlich krank und
musste auf dem Felde liegen bleiben. Das Hühnchen lief eilends
nach Hause und brachte ihm Hilfe. Der Arzt machte endlich auch
das Hähnchen wieder gesund; allein es musste lange im Bett
liegen, viel bittere Arznei nehmen und viele Schmerzen leiden.
Nun glaubte das Hühnchen, habe das unvorsichtige
Hähnchen doch endlich warten gelernt. Aber als der Winter kam
und das Wasser zufror, da wollte das Hähnchen doch aufs Eis
gehen, ehe es noch fest gefroren war. Da sagte das Hühnchen:
"Liebes Hähnchen, ich bitte dich, warte nur noch einen einzigen
Tag! Dann wollen wir zusammen auf das Eis gehen." - Aber das
Hähnchen folgte auch diesmal nicht. Es ging fort auf das dünne
Eis, brach ein und ertrank.
Als es endlich herausgefischt wurde, da weinte
das Hühnchen bitterlich und sprach: "Ach, wenn mein Hähnchen
doch nur ein klein bisschen warten gelernt hätte, so wäre dies
Unglück nicht geschehen; dann wäre mein Hähnchen nicht tot, und
ich müsste nicht allein sein." |